Zu Gast bei deutschen Familien

Das JRK in Weißenburg-Gunzenhausen trifft Vorbereitungen und macht ein Programm für den 14tägigen Aufenthalt der ukrainischen Kinder

Gerhard Grimm
3/1991

Während der Osterferien - wir waren alle froh über den Abschluß der Nahrungsmittelhilfe - rief mich Herr Modi vom Bayerischen Rundfunk an. Kinder aus Tschernobyl würden für einen Erholungsaufenthalt nach Bayern kommen. Eine Gruppe käme in unseren Landkreis, wir sollten die Betreuung übernehmen, es wäre schon alles mit unserem Vorsitzenden abgesprochen. Jegliche Ablehnung erwies sich als sinnlos - im Hintergrund war bereits ein Netz von Zusagen gewoben. Also: Kopf einziehen Imd durch!


In einem Gespräch erfuhren wir dann näheres: Durch den Rundfunkaufruf zur Rußlandhilfe waren etwa 23 Millionen DM gesammelt worden, die teilweise als Hilfsgüter schon weitergeleitet worden waren. Für einen Teil des Geldes sollten nun 600 Kinder aus Tschernobyl (Betroffene der Katastrophe) in Bayern Erholung finden. 240 würde der Bayerische Rundfunk in drei Schichten für jeweils 2 Wochen in Familien unterbringen. Manche Kinder könnten Krankheitsanzeichen haben. Wir sollten nun die notwendigen Erfahrungen sammeln und für die Betreuung sorgen. Bereits am gleichen Abend erarbeiteten unsere Gruppenleiter ein Entwurfsprogramm für Ausflüge und Unternehmungen. Aber woher die Gastgeberfamilien finden?


Wieder ging ein Aufruf an die Schulen. Wenn jede Schule etwa 5 bis 10 Kinder übernehmen und Gastgeber finden würde, dann wäre eine gewisse Betreuung schon gegeben und eine Vorauswahl geeigneter Gasteltern sichergestellt. Denn mit diesen würde die Aktion stehen und fallen. Besonders beim BRK machte man sich große Sorgen wegen des Familienaufenthaltes und wollte sich nur mit Heimaufenthalten abgeben. Ratschläge und Infos überschlugen sich, wir an der Basis mußten jedoch die Aktion auf jeden Fall durchführen.

Mit einer großen Pressekonferenz riefen Herr Dr. Scharf (Rundfunkintendant) und Bürgermeister Hilpert von Günzenhausen die Bevölkerung zur Mithilfe auf. Damit war der Grundstein zu Mißstimmungen gelegt, denn Landrat und andere Bürgermeister waren außen vor gelassen worden. Andererseits hatte man sich auf eine Aufgabenteilung geeinigt: Familien vermittelt die Stadt Gunzenhausen, die Betreuung organisiert das JRK. Bei der Stadt Günzenhausen stand das Telefon nicht mehr still. Aus dem Landkreis aber auch quer durch Bayern meldeten sich Gastgeber. Allein die Grundschule Weißenburg vermittelte über 50 mögliche Plätze. Nach einigen Tagen waren Unterkünfte für über 130 Kinder gefunden, dabei würden doch nur 80 kommen. Bevorzugt wurden Eltern, die zwei Kinder aufnehmen wollten (Vorsorge gegen Heimweh) und in Weißenburg, Nennslingen, Ellingen, Treuchtlingen oder Günzenhausen wohnen. Selbstredend mußten sie selbst Kinder im passenden Alter haben. Für 90 Kinder wurden so Unterkünfte vorgesehen, weitere Eltern standen als Reserve bereit. Kurz vor dem Beginn des Aufenthaltes, der vom 14. bis 28. Juni 1991 dauern sollte, erhielten wir die Namenslisten mit 92 Kindern und 7 Betreuern.

Abweichend von der ursprünglichen Planung wollten wir auch die Betreuer bei Familien unterbringen, wo sie jederzeit telefonisch erreichbar sein würden. Alle Gasteltern hatten zwar ein kleines Wörterbuch zur Erleichterung der Verständigung erhalten, aber für größere Probleme sollten die Betreuer rund um die Uhr zur Verfügung stehen. Für den Notfall war über die Leitstelle ständig eine Führungskraft erreichbar, die jederzeit vermittelnd eingreifen konnte. Von allen Seiten erreichten uns Angebote zum Programm, das immer mehr anwuchs, aber nur ein Angebot sein sollte. Zuerst sollten sich die Familien um die Kinder kümmern, daneben aber wollten wir allen zur Erleichterung ein Programm anbieten. Die Gasteltern wählten schon im Vorfeld Programmpunkte aus, die ihre Gäste und die eigenen Kinder wahrnehmen sollten, aber es gab natürlich bis zuletzt Verschiebungen. Wir jedenfalls sammelten logistische Erfahrungen im Umgang mit Busunternehmern.

Am 14. war es dann soweit. Wir warteten am Flughafen in München auf die Kinder. Quicklebendig kletterte ein Haufen munterer Wesen aus dem Flugzeug, wieselte zu den gekennzeichneten Bussen. Auf dem Weg bereits erhielt jedes Kind einen Button mit Namen und Telefonnummer der Gasteltern, farblich unterschiedlich je nach Wohnort. Einige Kinder waren krank geworden, so daß nur 84 mitgeflogen waren. Somit mußten einige Familien mit einem Kind zufrieden sein. An den Schulen der Zielorte wurden die Kinder den Gasteltern übergeben, was nicht ohne großes Hallo und Durcheinander abging, aber schließlich waren alle heil untergebracht. Anfangs noch schüchtern, tauten die Kinder bei den Familien bald auf und fanden trotz sprachlicher Barrieren schnell engen Kontakt zu ihren Gastgebern. Meist hatten sie nur wenig Wäsche und Kleidung zum Wechseln, so daß die Gasteltern meist erst einmal zum Einkaufen gingen, bzw. Geschenke von Bekannten für die Kinder erhielten. Die Grundschule Weißenburg, deren Rektor Herr Ruf Gastgeber eines Betreuers war, richtete mittels Elternbrief binnen weniger Tage eine Kleiderkammer ein, aus der alle Kinder reichlichst eingedeckt wurden (und noch einige Kubikmeter an die deutsche Gemeinde in Kiew mitgegeben wurden).


Waren äußerlich keine Krankheitsanzeichen erkennbar, so entdeckten die Gasteltern doch bald, daß viele Kinder rasch ermüdeten und seelisch bedrückt schienen. Sie alle wissen, daß ihr ganzes weiteres Leben von den Folgen der Reaktorkatastrophe geprägt sein wird. Manche rechnen nur noch mit einer Lebenszeit von einigen Jahren. Ein Mädchen erzählte, wie sie vom Dach ihres Wohnhauses aus dem Reaktorbrand zugeschaut habe. Trotzdem machten sie begierig bei allen Programmpunkten mit und waren nach der Neueinkleidung nicht mehr von unseren Gastgeberkindern zu unterscheiden.


Presse, Rundfunk und Fernsehen begleiteten die Aktion durch eine rege Berichterstattung, war es ja nicht zuletzt "ihre Aktion". Für uns hieß alles zuerst einmal Arbeit, die sich aber mehr als lohnte, betrachtete man nur die strahlenden Gesichter unserer kleinen Gäste. Wieder erreichte uns viel positive Rückkopplung und viele Eltern fragten, ob sie denn den Aufenthalt der Kinder nicht verlängern könnten. Das zeigte uns, daß es in den Familien wohl doch meist problemlos lief.


Als dann nach vierzehn Tagen der Abschied nahte, bestürmten uns die Eltern geradezu: die Aktion muß im nächsten Jahr fortgesetzt werden. Dazu erklärten wir uns herzlich gern bereit und nehmen Arbeit und Probleme gerne in Kauf, denn einen schöneren Weg der Völkerverständigung kannesjawohl nicht geben. Aber ob wir die Fahrtkosten auftreiben werden? Beim Abschied vor den Schulen flössen bittere Tränen, besonders bei den kleineren Kindern. Die Kinder, die mit einem Köfferchen und einer Plastiktüte angekommen waren, schleppten nun drei bis fünf große Koffer, einer gar acht. Ein Behindertenbus brachte für jedes Kind ein Nahrungsmittelpaket und die Kleider für die deutsche Gemeinde nach München. Die Nahrungspakete hatte die Grundschule Weissenburg organisiert, die uns in jeder Hinsicht eifrigst unterstütze. Das Flugzeug konnte die viele Fracht kaum aufnehmen, aber neben den Sorgenfalten stand ein zu friedenes Lächeln im Gesicht des Flugkapitäns. Aus unserer Nahrungsmittelaktion war nun ein Aktionspaket geworden, das hoffentlich sogar eine längere Fortsetzung finden wird. Neben Briefen, die zwischen Gastkindern und Gastgebereltern ausgetauscht werden, erreichte auch das JRK ein Brief. Das muß doch Mut zum Weitermachen geben.

Liebe deutsche Freunde!

Wir danken Euch, Euerem wundervollen Land, dem fleißigen deutschen Volk, Euerer Regierung vom Grunde unseres Herzens für die humanitäre Hilfe für die Tschernobyl-Kinder.
Wir haben das Paket mit den ökologisch reinen Lebensmitteln erhalten. Vielen, vielen Dank!

Unsere 12-jährige Tochter, Lena Frolova, hielt sich für zwei Wochen zur Erholung in der Familie Herrn Peter Mandels in der Stadt Nennslingen auf. Am 28. Juni kam sie gestärkt zurück, glücklich, mit einer Zahl unvergeßlicher Eindrücke und schon beim Treffen auf dem Flughafen erklärte sie: "Oh, ich wäre so gern nicht mehr hierher zurückgekommen! Ich habe verstanden, daß man die glücklichste Kindheit in Deutschland verleben kann, aber nicht in unserem Land, wie mir meine Lehrer eintrichtern wollten. Ich möchte für immer in diesem guten Land bleiben!"

Wir bitten Euch, unsere herzliche Dankbarkeit an Herrn Peter Mandel und seine Familie zu übermitteln für ihre Fürsorge, Wärme, mütterliche Freundlichkeit und die Geschenke.
Wir würden uns freuen, wenn Ihr diesen Brief in der deutschen Presse veröffentlichen würdet und damit die Menschen in Deutschland unsere Bewunderung für ihren guten Willen erkennen lassen würdet! Wir wünschen Euch und Euerem Land Glück und Reichtum.

Hochachtungsvoll Familie Frolov

 

Programm des JRK Weißenburg-Gunzenhausen für die Kinder aus der Ukraine

Alle Punkte werden frei angeboten, d.h. sie sollen nur die Familien entlasten, die selbst nichts veranstalten können. (Meldung erforderlich!)Während der ersten Woche steht täglich ab 10.00 Uhr das Jugendzentrum Gunzenhausen zur Betreuung offen!

Freitag, 14.06.91 Anreise zum Flugplatz München

Samstag, 15.06.91 Möglichkeit zum Besuch "Tag der Schulsanitäter", Pleinfeld

Montag, 17.06.91 Führung durch das neue fränkische Seenland mit Erklärung des Projektes Stadtrundgang in Günzenhausen,anschließend Kaffeeklatsch im BRK-Heim GUN

Dienstag, 18.06.91 Besuch im Steinbruch und Museum Solnhofen - Aktienverein,Burg Pappenheim für die Älteren: Disco im Jugendzentrum Günzenhausen

Mittwoch, 19.06.91 Verkehrsmuseum Nürnberg, Mittagessen beim Kreisverband Nürnberg Stadt des BRK,Tiergarten

Donnerstag, 20.06.91 Seezentrum Schiungenhof,Führungen auf der Vogelinsel, Möglichkeit zumTret- und Ruderbootfahren,Radfahren, Mitsegeln, Surfen, Playmobil-Wettbewerb, Spielbus, Baden

Freitag, 21.06.91 Freibad und Wellenbad Treuchtlingen mit der WW

Samstag, 22.06.91 Besuch der Ausstellungen der Hilfsorganisationen in der Stadt Gunzenhausen, Zuschauen bei der Großübung, Festzelt zum Kolonnenjubiläum mit Musik

Sonntag, 23.06.91 Fahrt mit dem historischen Dampfzug Roth - Thalmässing

Montag, 24.06.91 Besuch im Studio Franken des BR, Schlauchbootfahrt von Pappenheim nach Solnhofen Grillabend mit den Gastgeberfamilien beim Sportplatz Übermatzhofen

Dienstag, 25.06.91 "Römertag inWeißenburg,Römermuseum, Thermen,Römerkastell

Mittwoch, 26.06.91 Führungen in der Wülzburg, Grillen im Innenhof der Wülzburg

Donnerstag, 27.06.91 Abschiedsabend mit den Gastgeberfamilien

Freitag, 28.06.91 Abreise über Flugplatz München